Prof. Dr. Michael Kunz über Entwicklungen in der Physiotherapie

Kaum ein Bereich der Gesundheitsbranche ist so in Bewegung, wie die Physiotherapie. Ein wesentlicher Grund dafür ist die zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung, die diesem Zweig einen besonderen Stellenwert gibt.  Um den steigenden Anforderungen gerecht werden zu können, sind auch neue Herangehensweisen gefragt. Im folgenden Interview werfen wir mit Prof. Dr. Michael Kunz einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen.

Fitness News Germany: „Als ehemaliger therapeutischer Leiter der Olympiastützpunkte Köln, Bonn und Leverkusen, Ausbildungsdirektor des DFAV e.V. und langjähriger Experte im Rehabilitationssport – wie haben sich die Anforderungen an evidenzbasierte Therapiekonzepte in den letzten 20 Jahren verändert?“

Prof. Dr. Michael Kunz: „Auf evidenzbasierten Therapiekonzepten beruhen – zum Glück – mittlerweile die meisten Vorgehensweisen in der modernen Physiotherapie. Die „Meisten“ deshalb, weil hier z.Z. noch unzureichende Studienlagen zu diversen Indikationen und Beeinträchtigungen aber auch insbesondere physiotherapeutischen Methoden und Vorgehensweisen bestehen, die es gilt, weiter zu erforschen und somit dann auf evidenzbasierte Vorgehensweisen zu modifizieren bzw. anzuwenden. Die evidenzbasierte Vorgehensweise hat in den letzten 2 Jahrzehnten daher dazu beigetragen, dass viele „mystifizierte“ und auf Grund persönlicher Erfahrungen bzw. Einschätzungen vorgegebene Therapiekonzepte heute (glücklicherweise) ganz anders aussehen und durchgeführt werden. Wichtig ist meiner Meinung, dass die evidenzbasierte Physiotherapie nicht nur Ihre „Effekte“ erzielen, diese prüfen und bestätigen können sollen, sondern dass auch die Effizienzüberlegungen eine immer wesentlichere Rolle spielen müssen vor dem Hintergrund der Anforderungen an ein modernes Gesundheitssystem. Darüber hinaus spielt die evidenzbasierte Vorgehensweise eine wesentliche Bedeutung dabei die Physiotherapie in den Gesamtrahmen einer modernen Medizin mit Hinblick auf einen biopsychosozialen (ICF) in Verknüpfung mit dem klassischen biomedizinischen Ansatz (ICD) zu bringen. Die Anforderungen sind in den letzten 20 Jahren damit deutlich komplexer geworden.“

FNG: „Ihre Forschungsschwerpunkte haben sich von physiologischen Adaptionsprozessen hin zur Versorgungsforschung entwickelt. Welche aktuellen Erkenntnisse aus diesem Bereich sollten Therapeuten besonders beachten?“

Prof. Dr. Michael Kunz: „In der alltagspraktischen physiotherapeutischen Arbeit gilt es sich die Forschungsergebnisse immer wieder aktuell zu den behandelten Krankheiten zur Kenntnis zu bringen, da die Halbwertzeiten von Kenntnissen und gesichertem Wissen in der Medizin – und damit auch in der Physiotherapie – sehr kurz sind und auch in vielen Bereichen immer noch kürzer werden. Also, meine Empfehlung: Immer mal wieder in relevanten Datenbanken nachschauen und eruieren, ob die angewendete physiotherapeutische Vorgehensweise noch den aktuellen Erkenntnissen entspricht.“

FNG: „Sie haben gemeinsam mit Volker Ebener ein innovatives Projekt zur Visualisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Indikationsplakate entwickelt. Welche didaktischen Überlegungen stehen dahinter?“

Prof. Dr. Michael Kunz: „Die ‚Indikationsplakate‘ helfen den Therapeuten einerseits dabei Therapiekonzepte zu aktuellen Therapieerkenntnissen therapeutische, evidenzbasierte Vorgehensweisen auf eine bestimmte Indikation bzw. Funktionsbeeinträchtigung nach aktuell, recherchierten Erkenntnisse in den relevanten Datenbanken für physiotherapeutische/medizinische Themen festzulegen; zum anderen kann anhand dieser Plakate ein nachvollziehbares und erklärendes Patientengespräch organisiert werden zu physio- und trainingstherapeutischen  Vorgehensweisen.“

FNG: „Wie können Therapeuten die wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Studierenden, die in den Indikationsplakaten aufbereitet wurden, konkret in ihren Praxisalltag integrieren?“

Prof. Dr. Michael Kunz: „Die sehr praxisnahen und kompakten Antworten mit wissenschaftlich recherchiertem Hintergrund auf den Plakaten führen zu klar definierten Umsetzungskonzepte für den (physio-)therapeutischen und medizinischen Alltag.“

FNG: „Welche Entwicklungen sehen Sie als Mitglied des therapeutischen Beirats der „Physikalischen Therapie“ für die Zukunft der Rehabilitationsforschung?“

Prof. Dr. Michael Kunz: „Die ‚Rehabilitationsforschung‘ war und ist schon seit langer Zeit in Deutschland angewendet und etabliert; bei den Therapien sieht das anders aus. Über Jahrzehnte wurde hier oft nach dem subjektiven Empfinden angesehener Therapeuten/innen behandelt, ohne nach den wissenschaftlichen Grundlagen bzw. Hintergründen zu fragen. Es ist aber wichtig vor dem Hintergrund gesetzlicher Vorgaben (z.B. § 134 a SGB V), den Anforderungen der therapeutischen Weltverbände (Physio-, Ergotherapie und Logopädie), einem professionellen Selbstverständnis (immer das Beste für die uns anvertrauten Betroffenen zu tun) und dem Kostendruck im Gesundheitswesen (GKV-Vorgabe ist es, dass zu finanzieren, was wissenschaftlich belegt auch tatsächlich wirkt, also Effekte macht – festgehalten in der Präambel SGB V). Und hier gibt es in der Zukunft noch jede Menge „weiße“ Flecken zu bearbeiten. Die Entwicklung geht also dahin, die Therapie genauso wissenschaftlich zu begleiten, wie andere Disziplinen es auch durchführen und durchführen können müssen. Im Übrigen sind hiermit auch neue attraktive Arbeitsplätze für Therapieberufler verbunden.“

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